Florian Lutz, Regisseur

Tannhäuser

von Richard Wagner

Kontakt
Biografie

2014
Tannhäuser
Theater Lübeck
Liebeswahn
Händelfestspiele Halle
Médée
Theater Bielefeld

2013
Nocturno
Theater Bonn, Bundeskunsthalle
Die Dummheit
Theater Regensburg

2012
Norma
Theater Bonn
NaturNotizen
Frankfurt LAB

2011
Così fan tutte
Anhaltisches Theater Dessau
Hoffmanns Erzählungen
HAU1 Berlin

2010
Carmen
Theater Bonn
playZero
Festspielhaus St. Pölten
Lucia di Lammermoor
Staatstheater Braunschweig

2009
Die arabische Nacht
Oper Halle
Des Landes verwiesen
Theater Bonn
Helges Leben
Theater Bielefeld

2008
Lohengrin
Bühnen der Stadt Gera

2007
Strangers
HAU 1 Berlin

2006
Orfeo ed Euridice
Bühnen der Stadt Gera

2005
Gelegenheit macht Diebe
Saalbau Neukölln Berlin
Die gelbe Prinzessin
Neuköllner Oper Berlin

2003
Die kahle Sängerin
Theaterhaus Köln

Premiere am 31. August 2014 am Theater Lübeck
Musikalische Leitung: Ryusuke Numajiri
Bühnenbild: Christoph Ernst, Kostüme: Mechthild Feuerstein, Video: Katharina Spuida
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„Der Regisseur Florian Lutz inszeniert Richard Wagners "Tannhäuser" drastisch. Auf der Bühne des Theaters Lübeck liegen tote Politiker. Die Besucher des Stücks sind aktiv an der Inszenierung beteiligt: Sie singen und erfühlen Wagners Musik.
Wenn Wolfram Schäuble von der Dämmerung singt, die wie Todesahnung die Lande deckt, hat Elisabeth Merkel die Honoratioren der Wartburg-Gesellschaft bereits mit einem jovialen Händedruck zur Strecke gebracht. Guido Westerwelle liegt tot auf der Bühne, Sigmar Gabriel und Hans-Christian Ströbele haben die Annäherung der Kanzlerin ebenfalls nicht überlebt.
Folgerichtig ist der "holde Abendstern", den der Finanzminister immer wieder gerne sieht, auch der langsam kreisende Stern eines Stuttgarter Autoherstellers. Einen ausgesprochen politischen "Tannhäuser" hat der Regisseur Florian Lutz im Theater Lübeck auf die Bühne gebracht, das Künstlerdrama um den lüsternen Minnesänger hat ihn dabei deutlich weniger interessiert als die meisten seiner Kollegen in den letzten Jahren.

Witziger Blick auf romantische Oper
Wenn im Finale die Pilger aus Rom zurückkehren und vom verspäteten Erlösungswunder erzählen, wird die Inszenierung zwar etwas zu didaktisch mit projizierten Schrifttafeln und konkreter Handlungsaufforderung an das Publikum, auch könnte der Videoprojektor ohne weiteren Schaden für den Theaterabend einfach ausgeschaltet werden, aber dem Lübecker Theater gelingt insgesamt ein unterhaltsamer, zum Nachdenken anregender, gelegentlich sehr witziger Blick auf diese romantische Oper.
Bühnenbildern Christoph Ernst hat den Zuschauerraum des Lübecker Theaters gespiegelt und Kostümbildnerin Mechthild Feuerstein steckte die handelnden Personen geschickt in gut sitzende Alltagskleidung. Schon vor Beginn der Oper fordern vier betont fröhliche Hostessen das Publikum zum gemeinsamen Chorsingen auf, um die Kraft von Wagners Musik im Kollektiv zu erfahren.

Vor der Aufführung wurden Besucher im Foyer nach ihrer Vorstellung von Sünde gefragt, einige Videos werden gezeigt und die Besucher auf die Bühne gebeten. Publikumsbeteiligung für Fortgeschrittene. So entsteht jedenfalls keine wonnige Wagner-Weihestimmung, sondern eher eine angeheiterte Volkshochschulatmosphäre.

Tannhäuser als bewusst agierender Mensch
Gegen Ende des ersten Akts trifft Tannhäuser nach der Trennung von der Liebesgöttin Venus auf die Politikerelite der Bundesrepublik, zu der er einst offenbar auch gehörte. Westerwelle, Gabriel, Steinmeier und Gauck nehmen ihn mit zu Elisabeth, die auffällige Ähnlichkeit mit der amtierenden Kanzlerin hat. Im zweiten Akt gestattet sich Florian Lutz auch Momente der zärtlichen Annäherung zwischen den Protagonisten, lässt durchscheinen, dass Elisabeth ihren Tannhäuser wohl wirklich bedingungslos liebt und von ihm tief gekränkt wurde, als er sie zugunsten der attraktiveren Venus verließ.

Tannhäuser ist im Sängerkrieg weniger der Verfechter körperlicher Lust als vielmehr ein bewusst agierender Mensch auf der Suche nach seinen wirklichen Bedürfnissen. Der Skandal besteht darin, dass er der satten Elite vor Augen führt, wie ihr Lebensstil die gesamte Umwelt vermüllt und zerstört. Eine überzeugende Begründung, warum Tannhäuser dann aber einen akuten Reueschub erleidet und dringend in Rom büßen möchte, kann auch Florian Lutz nicht liefern.
Nur wenig Klangfarben
In Wagners Stückdramaturgie klaffen eben riesige Löcher, die zu einem ebenso problematischen Verlauf führen wie die extrem uneinheitliche Musik des damals noch relativ unerfahrenen Komponisten. Da stehen uninspirierte Versatzstücke der romantischen Oper im ersten Finale neben überschwenglicher Chromatik im zweiten, da konkurriert der Wunschkonzerthit vom Abendstern mit der großen Bravourarie der Elisabeth.
Der Lübecker Generalmusikdirektor Ryusuke Numajiri setzt leider auf einen recht pauschalen Monumentalton, der nur wenige Klangfarben kennt und zudem auf großes Pathos setzt. Damit verführt er fast alle Sänger zu großer Lautstärke, so dass beispielsweise Gerard Quinn als Wolfram deutlich unter seinen Möglichkeiten bleibt. Der Tenor Herbert Lippert lässt großen Respekt vor der Angstrolle aller Tenöre spüren, zeigte aber große Nervosität und wenig künstlerischen Gestaltungswillen.

Politikroboter à la Angela Merkel
Ganz anders die Elisabeth der Carla Filipcic Holm, die in jeder Phrase ihr Wissen um den emotionalen Gehalt der Rolle deutlich macht und auch darstellerisch in der Wandlung von einer zukunftsfrohen jungen Frau zum alternativlosen Politikroboter vom Schlage Angela Merkels überzeugt. Gesanglich spielen sie und Julia Feylenbogen als stimmstarke Venus in einer höheren Liga als die versammelten Männer.

Obwohl sich das Publikum während der Aufführung sehr gut amüsierte, wurde der Regisseur Florian Lutz mit deutlichen Buhs empfangen. In diesem Fall ein gutes Zeichen, dass er den Nerv des Stücks und des Publikums getroffen hat."

„Werden sie wirklich mitmachen? Statt dass aus dem Halbdunkel des Orchestergrabens weihevoll der Bläserchoral emporsteigt, erscheinen auf der helllichten Bühne des Lübecker Opernhauses vier adrette Damen mit Hostessen-Lächeln und eröffnen uns, dass wir alle hier seien, um uns über Wagners „Tannhäuser“ auseinanderzusetzen. So so. Und weil es dazu wichtig sei, Wagners Musik ganz aus sich selbst heraus zu empfinden, wollen wir doch als Erstes mal gemeinsam den Pilgerchor singen. Oha. Aber siehe da: Es erscheint ein Prospekt mit Text und Noten, die vier Damen intonieren den Chorsatz professionell, animieren charmant und dirigieren energisch, und statt zu murren, summt und brummt es um mich herum nach zaghaftem Beginn bald sehr traulich. Die „vierte Wand“ ist durchbrochen, das Publikum als Mitspieler ohne Gage ist gewonnen.

Am Ende aber ist es dann vorbei mit der schönen Zweieinigkeit von Bühnenwelt und Publikum. Da ist, was als animierende Mitmach-Show begonnen hatte, in eine provozierende Parabel auf Merkel-Deutschland und seine Alternativlos-Politik umgeschlagen, und es rumort heftig im Publikum. Florian Lutz, unter den jungen Opernregisseuren einer der umstürzlerischsten, aber auch der originellsten und begabtesten, hatte offenbar gleich zwei grundlegende Ideen für seine Inszenierung. Wie sie zusammenpassen, ist die Frage.

Zunächst einmal gibt er sich alle Mühe, uns den Kopf darüber zu verwirren, wo denn nun die Bühne aufhört und der Zuschauerraum anfängt. Letztere, entworfen von Christoph Ernst, zeigt ein Spiegelbild des Ersteren. Auf den Bühnen-„Rängen“ sitzen tatsächlich echte Zuschauer, die eigens für diese „Erlebnisplätze“ angeheuert wurden. Und Andrea Stadel, Imke Looft, Frauke Becker und Annette Hörle, die vier blendend agierenden Moderatorinnen (beim Sängerwettstreit werden sie dann die vier Edelknaben singen), stellen uns in Video-Interviews Zuschauer vor, die vor Beginn der Vorstellung nach der wichtigsten Sünde unserer Zeit befragt worden waren. Als die dann aber alle fünf auf die Bühne gebeten werden, um dort den genannten Sünden zu frönen – da ist man sich nicht mehr ganz so sicher, wer hier Laie ist und wer Profi. Eine Köchin verführt zur Völlerei, ein Barkeeper zum Alkoholgenuss, ein Croupier zum Geldverprassen, eine Friseuse frönt der Eitelkeit, und „Nathalie“ bittet zum Poledance-Stripp und zieht ihr Programm bis auf die nackte Haut durch, in engem Kontakt zu ihrem allerdings vollständig bekleideten Partner. Man zweifelt, ob der wirklich ein ganz normaler Zuschauer ist. Und wundert sich umso mehr, wenn man in der Pause erfährt, er sei einer der wichtigsten privaten Geldgeber des Lübecker Theaters, der sich hier als Laienstatist verdingt – und natürlich vorher wusste, worauf er sich freuen durfte. Eine ganz neue Form der Sponsorenpflege!

Das also ist der Venusberg. Und genau in dem Moment, als man sich fragt, ob Florian Lutz uns denn wirklich weismachen will, dass diese „Sünden“ heute noch zur gesellschaftlichen Verdammnis führen, schlagen die Videos, die das Bühnentreiben um Venus und Tannhäuser herum begleiten, ins Unbehagliche um: Der Poledance wird durch Bilder von Kinderprostitution konterkariert, die Völlerei durch brutale Massentierhaltung, die Eitelkeit durch die Tierversuche und den Plastikmüll der Kosmetikindustrie, Alkoholmissbrauch, Drogen, Börsenzockerei, Armutselend – und man kapiert, dass hinter den lässlichen Sünden des gehobenen gesellschaftlichen Lebenswandels hässliche Konsequenzen stecken.

Tannhäuser erscheint zunächst genau als ein solcher gehoben lebenswandelnder Schickeria-Salonlöwe im weißen Dinnerjacket mit Venus als Lady in edler Silberrobe (Kostüme: Mechthild Feuerstein). Aber er ist in dieser Inszenierung derjenige, der den Zusammenhang von luxuriösem Lifestyle und sozialem Leid schließlich durchschaut und deshalb aus der in diesem Sinne „sündigen“ Gesellschaft des Venusberges flieht. Allerdings kommt er vom Regen in die Traufe. Denn die Wartburg-Gesellschaft unterscheidet sich vom Venusberg lediglich dadurch, dass sie „Sünde“ durch politische Korrektheit kaschiert. Die Animierdamen avisieren die Pilger als „das Bild des Menschen, das wir sehen wollen“, die Pilger selbst erinnern teils an reuige Ballermann-Sünder oder Manager, die nun T-Shirts mit Gutmenschen-Slogans tragen: Change now, Gegen Fracking, Men against Sexism … Und aus den Wartburg-Rittern sind allzu bekannte politische Selbstdarsteller geworden: Walther von der Vogelweide wuselt als Hans Christian Ströbele mit Fahrrad, Biterolf tut sich als Frank-Walter Steinmeier wichtig, Reinmar von Zweter gockelt als Guido Westerwelle herum, Heinrich der Schreiber gibt den geleckten Sigmar Gabriel, Wolfram kurvt als Wolfgang Schäuble im Rollstuhl über die Bühne, der Landgraf dürfte Bundespräsident Joachim Gauck sein. Und Elisabeth ist – Angela Merkel.

Damit ist das Terrain für die blanke Politsatire bereitet: Elisabeth mutiert durch ihre Himmelfahrts-Verklärung zur Rauten-Angie-Karikatur, die mit demonstrativ solidarischem Händedruck einen nach dem anderen abserviert und schließlich auch Tannhäuser ihrer politischen Gleichschaltungs-Räson einverleibt. Der gescheiterte Erlöser wird zum rückfälligen Säufer, Firmenlogos deutscher Großkonzerne hängen als Leitsterne am Himmel der alternativlosen Merkelwelt, und per Projektion flimmern Fragen über den blauen Vorhang: „Welche politische Konsequenz hat das Ihrer Ansicht nach?“ „Gibt es Erlösung?“ „Auf welches Wunder warten Sie?“
Das ist teils intelligent, frech und treffsicher, teils auch daneben, aber es diskutiert die im Stück verhandelten Fragen. Allerdings steht sich die mutige Inszenierung an zwei Punkten selbst im Weg: Sie hält den anfangs behaupteten partizipativen Ansatz nicht durch, denn je mehr sie sich in die politische Satire verbeißt, um so stabiler richtet sie die „vierte Wand“ wieder auf. Außerdem fuhrwerkt Lutz ebenso unmotiviert wie unsensibel in die Musik hinein. Dass Wolfram in seinem Lied an den Abendstern das bewusste Mercedes-Logo ansingt, ist noch absolut legitim in einem Konzept, das zeigen will, dass hinter der Sachzwang-Rhetorik der Merkel-Politik ideologisch verbrämte wirtschaftliche Interessen stehen. Aber darum muss Wolframs vorhergehender wunderbarer Monolog nicht durch das Türengeklapper zerstört werden, mit dem die Moderatorinnen die Pilger einlassen. Zuvor wirkte bereits die Abfallsack-Schlacht beim Sängerkrieges einfach nur läppisch, ein aufdringlicher Gag.

Dass das musikalische Geschehen unter dem Lübecker Generalmusikdirektor Ryusuke Numajiri auch rhythmisch bisweilen in erhebliche Turbulenzen gerät, macht die Sache nicht besser. Numajiri dirigiert schöne Stellen, kraftvoll auftrumpfende ebenso wie lyrisch verinnerlichte, aber sie bleiben Episoden, weil die Musik – auch aufgrund der szenischen „Übermalungen“ – kaum einmal zum großen Bogen findet. Leider bekommt auch der Tannhäuser von Herbert Lippert kein überzeugendes Profil: Ausgerechnet hier, bei der Hauptfigur, versagt Florian Lutz’ sonst so direkte satirische Parallelisierung von Opernfigur und politischer Gegenwart. Und vokal ist Lippert mit der Partie überfordert, attackiert unsicher, forciert das Forte blechern, bleibt im Piano belegt. Beachtlich dagegen Carla Filipcic Holms sehr dramatische, in der „Hallenarie“ zunächst etwas forciert wirkende Elisabeth mit strahlend tragendem Timbre, die zunehmend auch die nötige Entspanntheit für ihre lyrischen Passagen findet. Auch Julia Faylenbogens Venus wirkt bei der Premiere manchmal zu forciert, beeindruckt sonst aber mit vollem, sinnlich schimmerndem Timbre. Gerard Quinn ist ein charaktervoller, im dritten Aufzug dann sehr ausdrucksvoll gebrochener Wolfram, Shavleg Armasi ein klar fokussierter Landgraf mit markanter Diktion, Daniel Jenz ein lyrisch schlanker Walther.

Das Premierenpublikum feiert das Ensemble, beim Erscheinen des Regieteams liefern sich Begeisterung und Empörung eine dröhnende Buh-Bravo-Schlacht. Für beides gibt es Gründe. Für mich war es trotz aller Einwände eine anregende und wohltuend freche „Tannhäuser“-Inszenierung. Dass sie in den Pausen und nach dem letzten Vorhang heftige Diskussionen auslöste, spricht gewiss nicht gegen sie."

„Richard Wagners „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ erweist sich immer wieder als erstaunlich offen für Interpretationen. Dabei kann sich jeder wagemutige Regisseur auf das Bonmot des Komponisten an seinem Lebensende berufen, wonach er der Welt noch einen Tannhäuser schuldig sei. Er selbst hat eine ganze Auswahl von diversen Fassungen hinterlassen. Und so mäandert die Rezeptionsgeschichte zwischen einem Diskurs über Sexualmoral und Frauenbild, Künstleroper und Gesellschaftsporträt, historischem Spektakel oder analytischer Spurensuche nach dem Ungeklärten und Brisanten für die Gegenwart oder irgendwo dazwischen.

Regisseur Florian Lutz hat jetzt in Lübeck ein Psychogramm der bundesrepublikanische Befindlichkeiten in den Jahren unter Kanzlerin Angela Merkel ziemlich geschickt mit einer Einladung ans Publikum verbunden, das Ganze als modernes Selbstbefragungs-, Mitmach- und sogar Mitsing-Theater neu zu entdecken. Im Vorfeld war von Erlebniskarten zu lesen, die man erwerben könne, um das Ganze aus der Nähe, auf der Bühne oder im Graben, mitzuerleben. Das ist keineswegs eine Kopie von Sebastian Baumgartens Zuschauern auf der Bayreuther Biogasanlagen-Bühne, die in diesem Jahr das letzte Mal bei den Wagnerfestspielen zu erleben war.

Im Foyer des Lübecker Theaters werden Zuschauer vor der Premiere zunächst nach dem befragt, was sie denn für Sünde halten. So wie da von Eitelkeit, zu viel Essen und Trinken, Geldgier und Ehebruch in die Videokamera von Katharina Spuida-Jabbouti gesprochen wird, werden dann auf der Bühne (Christoph Ernst), die den Zuschauerraum noch einmal auf dem Rundhorizont andeutet, eine mobile Bar, ein Frisiersalon, ein Spieltisch und eine Tabeldancestange aufgefahren, wo sich genau diese Zuschauer und ein paar mehr dann „verwöhnen“ lassen bzw. „sündigen“ dürfen. Was ziemlich authentisch über die Rampe kommt.

Die vier Edel-Knaben aus dem Stück (mit viel Spielwitz und trainiert, um jede Art von Einwürfen zu parieren und zu integrieren: Andrea Stadel, Imke Looft, Frauke Becker, Annette Hörle) sind taffe Hostessen und moderieren zumindest durch die Hälfte des Abends. Einschließlich einer (tatsächlich angenommenen) Einladung an das Publikum, vor der Ouvertüre erstmal eine Runde mitzusingen: „Ach, schwer drückt mich der Sünden Last, kann länger sie nicht mehr ertragen; drum will ich auch nicht Ruh noch Rast, und wähle gern mir Müh’ und Plagen.“ Zu eingeblendetem Text und Notenbild, samt detaillierter Erläuterung und Dirigat von vorn. Ein Pilgerchor mit Fischerchöre-Tatsch – das hat es wohl auch noch nicht gegeben. Einem Teil des Publikums machte das durchaus Spaß, brachte aber auch die strengen Wagnerianer für ihre vehementen Buhsalven am Ende schon mal in Stellung. Wer die Unterbrechung der Musik zu den Todsünden auf der Opernbühne zählt, wird diesen Tannhäuser für eine Höllenfahrt halten.

Aber Florian Lutz ist klug genug, um diese Ebene nicht überzustrapazieren. Die Zwischen-Kommentare werden weniger, sind beim Einzug der Gäste zum Sängerwettstreit im zweiten Akt fast gänzlich auf die Übertitel reduziert und unterbleiben im Dritten ganz. Da allerdings nimmt der hintergründige Witz seiner Bilderwelt Fahrt auf. Nach der höchst praktischen Selbstbefragung zum Thema Sünde heute, und einem Auftritt von Venus (schick, elegant und als vokales Großformat: Julia Faylenbogen) und Tannhäuser im Stile eines Galakonzertes mit Ausraster, marschiert die Wartburg-Gesellschaft in Gestalt des aktuellen politischen Führungspersonals auf. Dank Mechthild Feuerstein (Kostüme) kommt Wolfram von Eschenbach (eloquent und sicher: Gerard Quinn) im Rollstuhl als Wolfgang Schäuble und ähnelt immer mehr auch Helmut Kohl, Biterolf (Taras Konoschenko) als Frank Walter Steinmeier, Walther von der Vogelweide (sehr geschmeidig: Daniel Jenz) mit rotem Schal und Fahrrad als Hans Christian Ströbele. Tim Stolte legt als Reinmar von Zweter einen ebenso musterschülerhaften Guido Westerwelle aufs Parkett wie Hjongseok Lee seinen Sigmar Gabriel-Streber. Man errät dann schon, dass Shavleg Armasi als Landgraf nur Gauck sein kann und ist dankbar, dass uns eine Venus a la Claudia Roth oder so erspart bleibt.

Nur konsequent ist dann, dass Elisabeth die teure Halle, also den erleuchteten Zuschauerraum, als Opernfreundin Angela Merkel vor dem geschlossenen Vorhang grüßt. Dafür genügen Carla Filipcic Holm Frisur, Oslo-Dekolleté und Habitus. Die berühmte Raute hebt sich Florian Lutz auf, um aus dieser selbstgestellten Falle wieder heraus zu kommen. Denn diese Elisabeth kann er ja nun schlechterdings nicht sterben lassen. Er macht etwas anders – er verklärt sie: Das „Allmächtge Jungfrau“ der Elisabeth wird hier zum Amtseid nach flott durchgezogener (Wieder-)Wahl durch die aus Rom heimkehrenden und jetzt gleichgeschalteten Pilger. Und sie zur roboterhaft entrückten Regierungschefin in Blazer, Hose und mit Raute.

Das Lachen bleibt im Halse stecken, wenn dann jeder kollegiale Händedruck für die männlichen Kollegen dazu führt, dass die tot zu Boden sinken. Nur der Mann im Rollstuhl ist klug genug, um sich dem zu entziehen. Dass der bei seinem Lied an den Abendstern das Riesenlogo der entsprechenden deutschen Automarke ansingt, versteht sich hier fast von selbst. Und dass Tannhäuser als abgerissener Penner aus Rom zurückkehrt und im gesellschaftlichen Aus an der Rampe landet, während hinter ihm ein Riesenbanner mit der gekrönten „Alternativlosen“ wie ein Spiegelcover gen Schnürboden entschwindet ebenso.
Tannhäuser als Störgröße
Als Schlusspointe werden dann tatsächlich mal im wahrsten Sinne des oft bemühten Brecht-Wortes die offenen Fragen auf den geschlossenen Vorhang projiziert. Wobei natürlich auch die dazu gehören würde, wer dieser Tannhäuser nun eigentlich ist. Vielleicht ja die Wunschgestalt eines Kritikers (der Wartburg- und damit unserer Gesellschaft), der den Müll hinter den Kulissen wieder hervorholt. So wie bei diesem Sängerwettstreit, der eigentlich ein Diskurs über die auf Spruchbänder geschriebenen Mainstreamwerte Nachhaltigkeit, Gleichberechtigung, Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit ist. Tannhäuser als Störgröße nicht nur der herrschenden Sexualmoral, sondern eine Nummer größer gedacht, vor allem der Welt des schönen Wortscheins und der allgemeinen Heuchelei? Warum dieser mutige Mann dann freilich einknickt, weil ihm die Gesellschaft, wie nicht anders zu erwarten, handgreiflich widerspricht, bleibt (wie immer in dieser Oper) eine offene Frage. Oder vielleicht doch nicht?

Vielleicht ist das, was Wagner mit der Obsession für die reine Liebe zu Maria umschrieb, nichts anders als das Harmoniebedürfnis einer saturierten Gesellschaft geworden, die den Müll nicht mehr sehen will, nachdem sie ihn getrennt und hinter den Kulissen entsorgt hat?
Florian Lutz hat ein diskussionsanregendes Konzept stringent umgesetzt. Dass mit dem Spruchband „Schützt unsere Buchenwälder“ vor den angedeuteten Stämmen des besungenen deutschen Eichenwaldes, auch eine Assoziation verbunden ist, die in Weimar, gleich neben dem ehemaligen KZ Buchenwald ganz anders klingen würde, als in Lübeck, sei nur angemerkt. Man sollte diesmal vielleicht doch lieber den Eichenwald schützen.

Alles in allem kann sich Lübeck einer der aufregendsten, packendsten und politisch wirklich aktuellen Tannhäuser-Deutungen rühmen. Ein gescheite, aus eigener Überlegung entstandene Fortsetzung von Baumgartens Bayreuther Experiment, freilich ohne dessen ästhetische Selbstblockaden.

Musikalisch hat die lobenswerte Lübecker Risikobereitschaft auch ihren Preis. Während die Frauen Heinrichs auch mit etwas weniger Lautstärke immer noch das von Ryusuke Numajiri ziemlich auf großen und vor allem lauten Wagnerton getrimmten Philharmonischen Orchester Lübeck überglänzt hätten, war vor allem der Tannhäuser von Herbert Lippert gewöhnungsbedürftig. Er bot dafür seine Sängererfahrung und auch Kondition auf, machte aber auch manch abenteuerlichen Umweg um den ja mitlesbaren Text und die Intonation. Imponierend, aber mit Steigerungspotential, führt Shavleg Armasi als Landgraf die in jeder Hinsicht geforderte Sängertruppe an. Musikalisch mag sich da (zumal viele Rollen doppelt besetzt sind) noch einiges entwickeln. Der szenische Rahmen freilich rückt das etwas abgelegene Lübeck mit diesem Tannhäuser durchaus ins Zentrum der Wagnerwelt."