Florian Lutz, Regisseur

Carmen

von Georges Bizet

Kontakt
Biografie

2014
Tannhäuser
Theater Lübeck
Liebeswahn
Händelfestspiele Halle
Médée
Theater Bielefeld

2013
Nocturno
Theater Bonn, Bundeskunsthalle
Die Dummheit
Theater Regensburg

2012
Norma
Theater Bonn
NaturNotizen
Frankfurt LAB
NaturNotizen
Frankfurt LAB

2011
Così fan tutte
Anhaltisches Theater Dessau
Hoffmanns Erzählungen
HAU1 Berlin

2010
Carmen
Theater Bonn
playZero
Festspielhaus St. Pölten
Lucia di Lammermoor
Staatstheater Braunschweig

2009
Die arabische Nacht
Oper Halle
Des Landes verwiesen
Theater Bonn
Helges Leben
Theater Bielefeld

2008
Lohengrin
Bühnen der Stadt Gera

2007
Strangers
HAU 1 Berlin

2006
Orfeo ed Euridice
Bühnen der Stadt Gera

2005
Gelegenheit macht Diebe
Saalbau Neukölln Berlin
Die gelbe Prinzessin
Neuköllner Oper Berlin

2003
Die kahle Sängerin
Theaterhaus Köln

Premiere am 5. Dezember 2010 am Theater Bonn
Musikalische Leitung: Robin Engelen
Bühne und Kostüme: Andrea Kannapee
Fotos
zurück
Opernwelt, Regine Müller, Februar 2011
„Kaum ein Repertoire-Hit ist derart umstellt von Klischees wie „Carmen“. An der Bonner Oper verweigert der junge Regisseur Florian Lutz jede Bilderbuch-Spanien-Folklore und spielt allenfalls ironisch aufs Lokalkolorit an, wenn er vereinzelt ein paar Volants und gepunktete Röcke aufblitzen lässt (Bühne und Kostüme: Andrea Kannapee). Stattdessen spitzt er das sattsam bekannte Geschehen auf originelle Weise politisch zu, indem er aus Carmen eine Klassenkämpferin macht, die ganz buchstäblich die Verhältnisse zum Tanzen bringt.
Zunächst sehen wir ein Wachhäuschen der Polizei, einen Zigarettenautomaten, hinten die Rückwand einer (Zigaretten?-)Fabrik mit metallischem Rolltor. In Jeans und Feinripphemd eckt Carmen nicht aus purer Streitlust mit einer Arbeiterkollegin an, sondern als Polit-Aktivistin. Nach der Zigarettenpause lässt sie einen Sprengsatz hochgehen, woraufhin sie festgenommen wird. Zuvor war bereits Karl Marx aufgetreten und hatte – augenzwinkernd – einiges zum Thema Entfesselung der Produktivkräfte vorgetragen. Und das bleibt nicht sein einziger Auftritt. Im zweiten Akt mutiert der schwafelnde Marx zum Gastwirt Lilla Pastia und hämmert zum Rhythmus der Kastagnetten auf eine rote Schreibmaschine ein.
Florian Lutz deutet Carmen nicht als Männer mordende Femme fatale, sondern als „Femme revoltée“: als Frau, deren oberstes Prinzip Freiheit heißt und die aufbegehrt gegen die herrschende Klasse. Ganz gleich, ob ihr Widerstand sich gegen Fabrikbesitzer oder besitzergreifende Männer richtet: Carmen ist eine Anarchistin, die jede Form des Besitztums ablehnt, auch und vor allem in einer Paarbeziehung. Der Gefahr des schablonenhaften Lehrstücks entgeht der Regisseur durch psychologische Präzision (beim Liebesdrama zwischen Carmen und Don José) und spritzige Ironie (bei den Massenszenen). So gelingt die Begegnung der Liebenden in Lilla Pastias’ Kneipe ungemein berührend. In den Chorszenen setzt Lutz auf effektvolle Action mit einstürzenden Mauern, Schießereien, Artisten, explodierendem Hubschrauber, Fallschirm springendem Torero und einer Tafel à la da Vincis Abendmahl. Es wimmelt spektakulär auf der Bühne. Dabei dominiert solides Handwerk, und das leicht Trashige trifft den lockeren, fast boulevardesken Charakter der Opéra Comique verblüffend gut.
Dazu passt, dass die Partien überwiegend leicht besetzt sind: Susanne Blattert präsentiert als Carmen einen hell timbrierten, gelenkig geführten Mezzo und spart sich jenes Fatalitäts-Tremolo, in dem der irisierende Charme der Partie so oft untergeht. Auch Jean-Noël Briend (Don José) setzt auf lyrisch weiche Stimmgebung, singt seine Arie mühelos und mit Schmelz. Mit erfrischender Selbstironie gibt Mark Morouse einen stimmlich markanten, doch ganz ohne Protzerei auskommenden Escamillo. Von kammermusikalischer Präzision sind die durchweg schlank besetzten Ensembles. Im Graben animiert Robin Engelen das Bonner Beethovenorchester zu emphatischem und hoch energetischem Spiel.“

Schnüss, Februar 2011
„Das Pariser Publikum reagierte bei der Uraufführung von Georges Bizets Carmen 1875 mit blankem Entsetzen: Eine „Zigeunerin“, die auf Regeln und Gesetze pfeift und statt dessen so lebt (und liebt) wie sie sie will, das war des Guten zu viel… Dennoch erfreut sich die Oper seit der deutschsprachigen Premiere, die wenig später stattfand, bis heute großer Beliebtheit. Als Prototyp der Femme fatale wird Carmen meist mit viel folkloristischem Flair in Szene gesetzt. Umso wohltuender ist die aktuelle Inszenierung von Florian Lutz, der sich allen süßlichen Klischees verweigert. Stattdessen versetzt er das Stück ins Spanien des 21. Jahrhunderts und gibt ihm einen klassenkämpferischen Touch: So ist Carmen nicht nur Anhängerin der freien Liebe, sondern auch gesellschaftskritisch unterwegs, indem sie in einer Fabrik einen Aufstand anzettelt. (Dass hier keine ‚Carmencita’ im üblichen Sinne agiert, zeigt auch schon ihre äußere Erscheinung in Jeans und Rippenshirt.) Sie gehört zu einer Gruppe von Bohemiens, die sich dem Kampf gegen das Kapital verschrieben haben. Wobei mit „Bohemiens“ die Begrifflichkeit für Revolutionäre leider etwas falsch gewählt ist, was allerdings auch zum –ansonsten sehr witzigen – Einfall passt, Karl Marx mit auf die Bühne zu bringen. Denn der rockt so lebhaft zur Musik ab und mischt so aktiv beim bewaffneten Kampf mit, dass man sich unwillkürlich fragt, ob hier nicht wohl eher der rebellische Anarchist Bakunin Pate gestanden hat…
Doch Schwamm drüber, was kleine Ungenauigkeiten anbelangt:
Die aktuelle Inszenierung bietet weder gesanglich noch von der dramaturgischen Umsetzung her Anlass zu Mäkeleien. Vielmehr erhält die Opéra comique hier endlich einmal den Biss und die Leichtigkeit, die man allzu häufig vermisst. Susanne Blattert gibt eine tolle, kraftvoll-erotische Carmen, der mit Mirko Roschkowski ein ebenbürtiger Don José zur Seite gestellt ist. Besonderes Lob verdienen auch der Chor sowie der Kinder- und Jugendchor des Theaters Bonn, die ebenso wie die anderen Darsteller durch schauspielerische wie durch gesangliche Leistungen überzeugen. Auch das hervorragende Orchester, das ideenreiche Bühnenbild und die ironisierende Kostümgestaltung tragen dazu bei, dass diese Carmen einen wunderbaren Opernabend bietet.“

Der Opernfreund, Dezember 2010
„Sevilla ist auch nicht mehr, was es mal war, denn in Florian Lutz´Neuinszenierung einer der bekanntesten Repertoireopern, sehen wir die Fabrikhinterhöfe, an denen die Touristenbusse möglichst schnell vorbeifahren, das moderne EU-Spanien der hohen Arbeitslosigkeit. Carmen ist auch keine Zigeunerin, sondern eine anarchistische Revolutionärin in hautenger Jeans und sexy Schiesser-Leibchen. Die "femme revoltee" und ihre Freunde haben es sich zur Aufgabe gemacht, dem internationalen Monopolkapitalismus mit Terror und Robin-Hood-Mentalität zu Leibe zu rücken. Susanne Blattert macht nicht nur optisch gute Figur, auch vokal ist sie schlank und agil, erotisch ohne Schwüle, selbstbestimmt bis zum Ende. Eine echte moderne Frau, die an die wunderbaren Heroinen der Almodovar-Filme erinnert. Ausgerechnet in einen Spiesser muß sich so eine Frau verlieben, doch der Don Jose von Jean Noel Briend ist eine echte Entdeckung, denn selten hört man das Ende der Blumenarie ins Piano verhallen, Kern behält die Stimme, wenn er den Macho aus Unsicherheit gibt. Mark Morouse gibt dazu einen prachtvollen Escamillo, der Bariton hat nötige Tiefe und den Peng in der Höhe und kommt selten ins Forcieren. Micaela ist schon eine konventionellere Frau, doch auch Julia Kamenik zeigt attraktives Selbstbewußtsein, was zu ihrem dramatischer gewordenen Sopran hervorragend passt. Mark Rosenthal (Remendado), Giorgos Kanaris (Dancairo), Judith Gautier (Frasquita ) und Kathrin Leidig (Mercedes) ergänzen ein agiles, differentiertes Schmugglerquintett. Der Zuniga von Ramaz Chikviladze ist Sonderklasse. Robin Engelen am Pult des sauber aufspielenden Beethoven-Orchesters bringt seine Absichten manchmal allzu direkt über die Tempi zum Klingen, schöner wäre die federnde Leichtigkeit des Bizet´schen Meisterwerks mehr im Auge zu behalten. Die Chöre, Extrachöre, Kinderchöre sind eine wahrliche Freude. 
Wie bereits angedeutet, haben wir es mit einer knackigen, entrüschten Carmen-Inszenierung zu tun, was Florian Lutz auf jeden Fall drei Akte lang bestens gelingt, dem Publikum mit skeptischem, modernen Blick auf das heutige Spanien, eine gute Show  mit witzigen Ideen, durchaus verblüffenden Effekten zu vermitteln. Wenn Escamillo als Mischung aus Torero und James Bond zum Helden der Unterschicht wird, oder das Folklore-Klischee als Gegensatz und witziger Widerspruch zum globalisierten Monopolkapitalismus benutzt wird, das hat Biss. Doch es sei auch angemerkt, das die Umsetzung, was den Fluß der szenischen Gebärde, Personenregie und Chorführung, immer mal wieder ins Stocken gerät, der handwerkliche Aspekt dem Ideensturm nicht gewachsen ist. Auch die Selbstverliebtheit in die Idee im vierten Akt, nämlich die Corrida als Revolution zu zeigen, wirkt aufgesetzt, sodaß die private Tragödie zwischen Carmen und Don Jose fast den Anschein einer Fußnote erweckt. "Carmen" trägt dieses Thema nicht in sich. Trotzdem ragt diese Aufführung aus dem Einerlei der Werkrezeption heraus, und wird weiterwirken. Die Zuschauer quittierten die Leistung des Inszenierungsteams beim Applaus mit Buhs und Bravos, die musikalische Seite durchweg mit großer Begeisterung.“

Bonner General-Anzeiger, Martin Freitag, 7. Dezember 2010
„Effektvolles Action-Drama auf Bonner Opernbühne.
Carmen und Karl Marx - wie passt das zusammen? Eigentlich gar nicht, aber Florian Lutz hat's in seiner Bonner Inszenierung von Bizets Oper dennoch versucht. Und ist gescheitert. Wenn auch auf eine durchaus kurzweilige Art. Denn Lutz bringt schon ein ziemlich effektvolles Action-Drama auf die Bühne, mit einstürzenden Mauern, schrägen Vögeln und Schießereien, einer (animierten) Hubschrauberexplosion und einem Fallschirm springenden Torero.
Im dritten Akt versammeln Lutz und seine grandiose Ausstatterin Andrea Kannapee die Bohémiens, wie die Zigeuner im französischen Original genannt werden, um eine Tafel nach dem Vorbild von da Vincis Abendmahl. Das Spektakuläre seiner Inszenierung verbindet Lutz geschickt mit seiner Sicht auf das zu einem großen Teil im subproletarischen Milieu angesiedelte Liebesdrama und gewährt dabei sogar einige tiefere psychologische Einblicke in die Seele der Protagonisten.
Der 31-jährige Regisseur sieht Carmen nicht als männermordende Femme fatale, sondern vor allem auch als "Femme revoltée". Sie ist eine, die aufbegehrt gegen die herrschende Klasse, ihr oberstes Daseinsprinzip heißt Freiheit. Aber eine Sozialistin, wie Lutz suggerieren will, ist sie deshalb ebenso wenig wie eine Freiheitskämpferin. Carmen tritt allenfalls ihre eigene Freiheit ein, die eben auch darin besteht, sich die Männer selbst auszusuchen. Sie ist Anarchistin und deshalb müsste ihr Idol eigentlich eher Mikhail Bakunin als Karl Marx heißen.
Konsequent in dieser Inszenierung aber ist es, die Carmen mit einer sportlich durchtrainierten Darstellerin zu besetzen, wie Susanne Blattert sie ist. Sie tritt, sehr untypisch für die Rolle, in Jeans und Feinripp-Unterhemd auf, um sich mit der "Habanera" den wachhabenden Soldaten vor der Zigarettenfabrik zu präsentieren und ihnen zu zeigen: Ihr habt keine Chance. Das ist keineswegs eine Absage an die erotische Natur der Carmen, nur könnte die Bonner Carmen eine Schwester von Lara Croft sein. Susanne Blattert verzichtet dabei allerdings auf comicartige Zweidimensionalität. Sie bietet im Gegenteil darstellerisch wie stimmlich alles auf, was es an menschlichen Gefühlen gibt: Lebensgier und Leidenschaft, Angst, Trauer, Verzweiflung und natürlich: Liebe.
Die berührendste Szene ist die, in der Don José (Jean-Noël Briend) ihr in Lilla Pastias' Kneipe wiederbegegnet. Sie tanzt für ihn (wobei statt der Kastagnetten Karl Marx' Schreibmaschine klappert), würde ihm sich ganz und gar schenken, doch er wendet sich ab, sobald die Fanfare ihn zum Dienst zurückpfeift. Der Gehorsam des Sergeanten Don José, der seine Pflicht über die Liebe zu ihr stellt, ist für Carmen unerträglich, ihre Reaktion heftig. Da ändert auch die mit schönem Tenorschmelz gesungene "Rosenarie" Don Josés nichts mehr. Dieser Riss, der durch die Liebe des Paares geht, wird selten so schmerzlich fühlbar wie hier. Don Josés Eifersucht nimmt danach deshalb so rasende Züge an, weil sie aus der Erkenntnis seiner eigenen Schwäche wächst.
Dass er den Anblick des machohaften, von Mark Morouse nicht ohne Selbstironie gespielten (und mit solidem Bariton gesungenen) Don Escamillo schon gar nicht erträgt, ist nachvollziehbar. Lutz versteht es aber auch, mit den Chormassen umzugehen. Die Anarchie auf der Bühne verrät eine starke ordnende Hand; auch musikalisch läuft alles perfekt: Trotz permanenter Rollen- und Kostümwechsel bleibt die Konzentration und Präsenz des von Sibylle Wagner musikalisch einstudierten Opernchors vorbildlich. Und Ekaterina Klewitz hat den Kinder- und Jugendchor großartig vorbereitet.
Angefeuert werden sie aus dem Graben von Robin Engelen, der hier seine Premiere als Erster Kapellmeister des Hauses glänzend besteht. Das Beethoven Orchester spielt mit Temperament und südländischem Feuer, bringt aber auch die intimen, kammermusikalischen Töne traumhaft schön herüber. Bizets "Carmen" lebt natürlich auch von einem starken Solistenensemble. Giorgos Kanaris, Mark Rosenthal, Ramaz Chikviladze, Sven Bakin, Judith Gauthier, Kathrin Leidig waren ausgezeichnete Nebendarsteller.
Der Schauspieler Roland Silbernagl entpuppte sich in der Rolle des Pastia/Marx als großes Slapsticktalent. Und Sopranistin Julia Kamenik gewann als Micaëla, die etwas biedere Verlobte Don Josés, die Herzen des Publikums, das die musikalische Seite insgesamt bejubelte, während Florian Lutz' Deutung auf geteiltes Echo stieß und einige Buhrufe provozierte.

Auf einen Blick
Die Inszenierung: Ein bisschen viel Karl Marx fürs Stück. Dafür entschädigen Emotionen und Action.
Die Musik: Solisten, Chor und Orchester bieten eine erstklassige Leistung.“

Express, 7. Dezember 2010
„Carmen & Marx machen keine Kompromisse.
Sie trägt enge Jeans, derbe Stiefeletten, weißes Unterhemd: So spartanisch gekleidet tritt uns Bonns Carmen entgegen, lässt auf der Opernbühne keine einzige Sekunde lang Folklore- oder Zigeuner-Kitsch zu. Denn das ist nicht die Sache von Susanne Blattert. Die schlanke, wohlklingende Mezzo-Sopranistin gibt ihrer Carmen großes Selbstbewusstsein, Würde, Kompromisslosigkeit. Die sexy Zigarettendreherin aus dem Sevilla des 19. Jahrhunderts – Blattert verkörpert sie als eine Revoluzzerin mit übermächtiger Freiheitsliebe.
Als Bruder im Geiste hat Regisseur Florian Lutz (30) ihr einen Promi der Zeit dazuerfunden: Der weißbärtige Karl Marx (1818 – 1883) darf in der weltberühmten Oper des Franzosen Georges Bizet eine wichtige Rolle spielen. Der stets präsente Vordenker des Kommunismus (Darsteller: Roland Silbernagl) lässt sich mehrfach – auf Deutsch! – über Klassenkampf und Kapital aus.
Das gefiel nicht allen im ansonsten von jeder Menge schräg verkleidetem Personal (Chor, Extrachor, Kinderchor, Artisten) bestens unterhaltenen Publikum. Zu den Bravos kamen beim Schlussapplaus einige Buhs.
Einhellig war die Zustimmung dagegen für die Resolution, die Sängerin Julia Kamenik (überzeugend als Micaela) noch verlas. Beim Thema Existenz der Bonner Oper gibt sich das Ensemble kompromisslos wie Carmen: „Jetzt ist Schluss! Wehren wir uns gemeinsam! Gegen die Zerstörung des Bonner Theaters! Gegen Kulturlosigkeit und gegen die Verödung unserer Stadt!“Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch aber, der das eigentlich hätte hören sollen, saß nicht im Publikum. Verhindert wegen eines Termins.“

Kölner Stadtanzeiger, 7. Dezember 2010
„Carmen trifft Karl Marx? Von den Lebensdaten her mag das funktionieren – gleich ob man das Erscheinungsjahr von Merimees Novelle (1845) oder das Urauführungsjahr von Bizets Oper (1875) zugrunde legt. Aber Marx ist nie in Südspanien gewesen, wo die Oper spielt. Also Fehlanzeige. Florian Lutz, der das Werk jetzt für die Bonner Oper inszeniert hat, ficht das nicht an. Bei ihm taucht Marx nicht nur sporadisch auf, sondern wird dem Ensemble als gewichtige Sprechrolle eingefügt. Und damit auch kein Zweifel übrig bleibt, dass der bärtige Kneipenwirt Lillas Pastia (Roland Silbernagl) hier tatsächlich zu Karl Marx mutiert ist, darf er mit Stentorstimme seine klassischen Texte über den Kapitalismus vorlesen – darunter das „Kommunistische Manifest“.
Aber er fällt auch aus der Rolle: Wer nicht wusste, dass der freudlose Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus ein leidenschaftlicher Tänzer war, wird hier eines Besseren belehrt: In der Umgebung einer Frau wie Carmen rockt selbst Karl Marx ekstatisch die Bühne, und das rhythmische Geklapper seiner Schreibmaschine ersetzt mustergültig die Kastagnetten im Tanz des zweiten Akts. Nur mit einer aufgeblasenen und wenig klassenbewussten Figur wie Escamillo kann er nichts anfangen – da verdrückt er sich missmutig im Hintergrund.
Nun ist es prinzipiell legitim, im Interesse einer aktualisierenden Deutung zusätzliche Figuren in eine Oper einzuführen – Hans Neuenfels etwa lässt im Essener „Tannhäuser“ mit einigem Glück Wagner und Ludwig II. auftreten. In Bonn klappt das leider gar nicht, der Grundeinfall der Regie ist ein Schuss in den Ofen.
Bei Lutz, der die Oper in einer unbestimmt-schmucklosen Gegenwart ansiedelt, sind Bizets Zigeuner schlicht „Bohemiens“, außenseiterische Unterschichtler, die massiv kriminell (siehe das Massaker an Zuniga im vierten Akt) das herrschende System angreifen. Sinnfällig wird die soziale Schichtung durch die gelegentliche horizontale Zweiteilung der Bühne (Andrea Kannapee): Die Welt der Outcasts ist in wörtlichem Sinne eine „Unterwelt“, deren erdbebenhafte Erhebung die Oberwelt von Zigarettenfabrik und Polizeistation wie Kartenhäuser einstürzen lässt. Überhaupt ist es um die Stabilität der herrschenden Ordnung schlecht bestellt: So lassen sich die Polizisten von den unbotmäßigen Straßenkindern einfach ihre Knarren klauen.
In diesem Umfeld nun wird Carmen zur Jeanne d’Arc der Revolution, die rote Zettel in der Fabrik verteilt und die Arbeiterin¬nen in den Aufstand treibt. Das ist die Verbindung zu Karl Marx – oder besser: Sie soll es wohl sein. Nur: Carmen ist mitnichten jemand, der der Gesellschaft eine neue, bessere Ordnung geben will. Was in ihr gegen die Verhältnisse rebelliert, ist ein lustbetonter Anarchismus, der nur und ausschließlich die eigene Freiheit meint.
Karl Marx – er bleibt im Ergebnis für die Handlung nicht nur folgenlos, sondern wirkt auch in diesem Umfeld schlicht lächerlich. Wenn Ridikülisierung allerdings die Intention der Regie gewesen sein sollte, erhebt sieh die Frage: Warum etabliert jemand eine werkfremde Figur, um sie anschließend der Dekonstruktion preiszugeben?
Lutz arbeitet, so viel ist erkennbar, gewalttätig althergebrachten Femme-fatale-Klischees und Zigeunerfolklore entgegen. Mit Gewalt gelang allerdings in der Kunst noch selten etwas. Beweglich-abwechslungsreiche Personenführung und Massenchoreografie sowie etliche starke Bilder können den zentralen Mangel nicht wettmachen.
Gesungen wird in Bonn sehr annehmbar: Susanne Blattert ist phänotypisch und auch vom Stimmcharakter her nicht gerade das, was man sich gemeinhin unter Carmen vorstellt. Aber ihr allzeit präsenter, beweglicher, schöner Mezzo changiert angemessen zwischen Spott und Spiel, Verlangen und Schmeicheln. Eine solide Vorstellung, kein Wunder an Aura und Suggestion. Jean-Noel Briend als José läuft nach schwachem Beginn mit eng-steifer Höhe zu respektabler Form und lyrischer Leidenschaft auf. Mark Morouse gibt eindrücklich einen prachtvoll-selbstgefälligen Escamillo, Julia Kameniks Micaela singt mit anrührendem Schmelz, befremdet aber durch eine im Forte forcierte Vibrato-Schaukel.
Das Beethoven-Orchester erreicht unter Robin Engelens temperamentvoll-druckvollem Dirigat nicht immer seine Bestform – neben vielem Schönen unterlaufen auch grobe, grelle, plakativ unschöne Effekte. Der Chor muss sich ebenfalls erst finden, gelangt dann aber zu gewohnt zuverlässiger Schlagkraft.“

Bonner Rundschau, H.D. Terschüren, 14. Dezember 2010
„Anarchisten geben den Takt an. Bei Bizets „Carmen“ geht die halbe Bühne in die Luft – Gute Neubesetzungen:
Die neue „Carmen“ schreibt Bonns Operngeschichte fort. Als vor 30 Jahren ein französischer Regisseur die Stierkampfarena als Puppenstube am Bühnenrand abstellte, demissionierte Intendant Hans-Joachim Heyse deswegen. Diesmal bleibt uns zwar der Intendant erhalten, dafür aber lässt Florian Lutz’ Regie gleich die halbe Bühne in die Luft gehen. Nicht völlig unerwartet, denn im Souterrain bedient Lillas Pastia mit angepapptem Karl-Marx-Kopf über weißer Schürze. Man müsste es also eigentlich umgedreht erzählen.
Im Untergrund wühlt Karl Marx als Kneiper verkleidet. Er knallt in die Tasten seiner Schreibmaschine. Man ahnt, dass statt Kastagnetten die Bombenwerfer der Anarchisten den Takt angeben, die auch zu Bizets Zeiten den Mächtigen ordentlich einheizten. Lutz trägt also „Carmen“ die Zeitumstände ihrer Entstehung an. Das ist nicht neu, die Kluft zur Musik schließt sich im vierten Akt. Das funktioniert auch seit der Premiere vor acht Tagen.
Die kleinen Ungereimtheiten gehören zum Stil, Bellinis Norma hat man in Bonn einst als Passionara mit Maschinenpistole auf einen Partisanenlastwagen gestellt. Diese Ästhetik braucht man nicht mehr zu verteidigen. Und damit die Zeit bis zum vierten Akt nicht lang wird, lassen Lutz und die Ausstattung von Andrea Kannapee es bis dahin ordentlich knallen.
In der zweiten Vorstellung ging es nun um die Neubesetzungen – nicht so viele wie angesagt. Doch damit hat auch sie nicht aussöhnen können, wie Lutz die Wirkung des sehr schönen vierten Aktes am Ende verschenkt. Dabei läuft in diesem Akt alles zunächst wunderbar zusammen, Robin Engelens dramatisch anrührendes Dirigat, die fabelhaft schöne Regie des Zuschauerfestes auf eingestürzten Arenatribünen. Sehr schön singen Anjara Bartz und Mark Morouse die letzte Begegnung von Carmen und Escamillio. Grandios gelingt die Einbettung der finalen Szene von Carmen und Don José, diesmal von George Oniani gesungen. Sie wirft ihm seinen Ring hin und sich todessüchtig ins Messer, und er sticht zu. Das alles auf hohem Niveau, auch gesanglich.
Aber dann lässt sich Lutz von seiner Interpretation einholen und scheucht alle in beleuchtete Parkett und von der Bühne. Wozu? Klar, Carmen Todessehnsucht, wichtiger Part von Anjara Bartz’ eindrucksvoller Wiedergabe, passt nicht so richtig in Lutz’ Ästhetik. Aber das müsste er wohl einfach hinnehmen. Dass davor schon Irina Oknina neu und gut als Micaëla zu bewundern war, ebenso die exzellente Besetzung von Frasquita und Mercédès mit Emiliya Ivanova und Kathrin Leidig, soll nicht unterschlagen werden. Auch nicht der üppige Beifall.“

Theater pur, Februar 2011
„Beim Streit in der Zigarettenfabrik geht das Gebäude zu Bruch, auf den Trümmern erscheint Carmen in rotem Umhang, eine Art Gallionsfigur der Revolution. Aus einem Wohnturm heraus hatte zuvor Karl Marx ein Manifest verlesen, inmitten der französischsprachigen Aufführung auf deutsch. Er stellt sich dann aber doch als der Wirt Lillas Pastia heraus. Doch dient seine Schänke wirklich subversiven Aktivitäten? Florian Lutz, welcher die beliebte Bizet-Oper in Bonn neu inszeniert, sucht – mit Recht – nach einer neuen Sichtweise auf das von Klischees begleitete Werk. Es ist ja noch nicht einmal so lange her, dass sich der originale Dialog gegenüber den verwässernden Rezitativen durchsetzte. Das Ausräumen von falschen Traditionen beginnt damit, dass von einem Tourismus-Spanien gänzlich abgerückt wird. Volantskleider dienen gerade mal zum Verkleiden, und Sevilla protzt bereits mit einer Hochhäuser-Skyline. Aus dem Gegensatz von Upper Class und Proletariat heraus (in der Zigarettenfabrik arbeiten zudem nur Frauen) darf man die Aktivitäten der Schmuggler verstehen, ohne dass die Inszenierung alle sozialen Fragen zu beantworten wüsste. Sie bilden für Lutz gleichwohl ein gewichtiges Zentrum. Von seinem Impetus lässt sich der Regisseur freilich schon mal überrennen, wie auch szenische Detaileinfälle fragwürdig anmuten.
Vieles wirkt aber neu und schlüssig durchdacht. Micaëla etwa ist nicht mehr das blaustrümpfige Mädchen vom Lande, sondern ein liebesdurstiger Teenager; Josés Küsse auf Stirn und Wangen reichen ihr nicht. Julia Kamenik (später mit ausdrucksvoll gesungener Arie) spielt diese Enttäuschung wunderbar aus. Der José des angemessen singenden und intensiv spielenden Jean-Noël Briend wirkt ehrpusselig und schwer entflammbar. Umso stärker das anschließende Verfallen-Sein an Carmen. Diese heißt in Bonn Susanne Blattert und verströmt herbe Erotik schon durch ihre Modelfigur. Der lyrisch grundierte Mezzo setzt gewisse Ausdrucksgrenzen, aber die Figur „stimmt“. Vierter im Protagonistenquartett ist Mark Morouse auch als Escamillo Klasse. Giorgos Kanaris (Dancairo) führt beim restlichen Ensemble vor Judith Gauthier (Frasquita), Kathrin Leidig (Mercédès), Mark Rosenthal (Remendado), Ramaz Chikviladze (Zuniga) und Sven Bakin (Moralès). Bravissimo für Robin Engelens Einstand als Erster Kapellmeister. Abgesehen davon, dass man die „Carmen“-Chöre kaum je so präzise hört wie in Bonn, verleiht er der bekannten Musik eine geradezu neue, brennende Überzeugungskraft.
Letztes Plus der Inszenierung: die finale Auseinandersetzung Carmen/José inmitten der Arena-Zuschauer. Wenn die mit stürmischen Hochrufen verschwunden sind, wird der Blick frei auf die Tragödie, welche sich gerade so en passant ereignete. Dieses Bild erschüttert.“

Kultiversum, 22. Dezember 2010
„Georges Bizet war nie in Spanien. Vielleicht finden sich gerade deshalb in «Carmen» alle gängigen Spanien-Klischees in so konzentrierter Form. An der Bonner Oper verweigert sich der junge Regisseur Florian Lutz konsequent jeder Folklore und spitzt stattdessen das Geschehen politisch zu.
Beschreibung:Es geht um den zeitlosen Konflikt zwischen Bindungswillen und Lebenshunger, um zügellose Leidenschaft und Tod. Carmen verkörpert den amoralischen Gegenentwurf zum Bürgertum und wirbelt mit ihrer provozierenden Unabhängigkeit alles durcheinander. Sie lässt sich weder von ihrem braven Verehrer José noch vom Stierkämpfer Escamillo domestizieren und bezahlt ihren Drang zur Unabhängigkeit schließlich mit dem Leben.
Formal hat Bizet eine Opéra-comique komponiert, im Kern ist «Carmen» jedoch ein psychologisches Kammerspiel jenseits von Gut und Böse, das mit unerbittlicher Logik in den Abgrund führt.
Die Bonner Carmen trägt Jeans und Trägerhemd und eckt nicht aus purer Streitlust mit der Staatsmacht an, sondern als radikale Klassenkämpferin: Nach der Zigarettenpause lässt sie in der Fabrik einen Sprengsatz hochgehen, woraufhin sie festgenommen wird. Carmen ist hier eine Extremistin der Freiheit, die jede Form des Besitztums ablehnt, auch und vor allem in einer Liebesbeziehung. Der Regisseur lädt diesen Zug Carmens mit politischem Bewusstsein auf und lässt – augenzwinkernd – sogar den leibhaftigen, Thesen schwafelnden Karl Marx auftreten und zum Klang der Kastagnetten auf eine Schreibmaschine einhämmern.
Im Graben animiert Robin Engelen das Bonner Beethovenorchester zu hoch energetischem Spiel, die Sänger klingen allesamt leicht, jung timbriert und ohne das übliche Fatalitäts-Pathos.

Bewertung: Marx zum Trotz gerät dem Regisseur der Abend eben nicht zum drögen Lehrstück. Er trifft im Gegenteil den lockeren Charakter der Opéra Comique genau und bringt mit quicklebendigen Chor-Tableaus und scharf umrissenen Hauptfiguren die Verhältnisse ganz buchstäblich zum Tanzen.“